Wenn Schrift nicht das letzte Wort hat

Straße der Menschenrechte bei Nacht, Nürnberg
Bei Nacht: Straße der Menschenrechte in Nürnberg

Das Gästezimmer des Germanischen Nationalmuseums liegt, wie das Museum selbst, an der „Straße der Menschenrechte“. Das ist eine Anlage von dem israelischen Gestalter/ Bildhauer Dani Karavan. Der Eindruck bei Nacht, aus "meinem" Fenster gesehen, ist interessant, weil sich da Beton und Schatten zu Formen zusammenschließen, die ungewiss lassen, wo das Gebaute aufhört .

Straße der Menschenrechte , Nürnberg, bei Tag
Bei Tage: Straße der Menschenrechte in Nürnberg

Bei Tage aber sieht man dann: Die Architektur hört schon da auf, wo die Menschenrechte eben erst angefangen haben. Denn, eingemeißelt in je einen der 30 Säulenstümpfe ist immer einer der 30 Artikel, abgefasst in den Sprachen der besonders „bedürftigen“ Länder, wo es heute noch “Diskriminierungen“ gibt, wie der Künstler sagte. Ein williger Leser muss also erst die Straße auf und ab gehen, um seine ihm verständliche Sprache zu finden. Fündig geworden, muss er die Säule umrunden, um den Text zu erfassen. Obwohl es sich jeweils nur um eine Kurzform der Menschenrechtsartikel handelt, erfasst den Leser auf seinem Weg schnell ein Schwindel. Denn die Lettern sind groß, und bei einer Lesegeschwindigkeit, die übers Buchstabieren hinausgeht, muss man um die Säule herumsausen. Und auch nur Weitsichtigen ist das gegeben, weil die Inschrift hoch oben angebracht ist. 

Wer diese Straße einfach nur durchschreitet, kommt allerdings auch nicht um ein flaues Gefühl herum: ach ja, die Menschenrechte. Er kann sie getrost links und rechts liegen lassen, er kann sie eh nicht lesen.

Schließlich zeigt das dritte Foto, dass es die Stelen noch einmal gibt, um 90 Grad gekippt. Eine Spiegelung, in der sie zu Kanonenrohren werden. Und weiter assoziiert: Wir promenierenden Gerechten können aus vollen Rohren feuern.  Nun wird der Künstler die Spiegelung nicht bewusst eingebaut haben. Jetzt, rund dreissig Jahre nach dem Entwurf der Straße,  missversteht man eventuell manches. Was Karavan wirklich bedacht hat, steht u.a. hier.

Vielleicht aber muss man zuerst die 30 Artikel der Menschenrechte in ungekürzter Form lesen, um das, was Dani Karavan davon sehen lässt, in die für heute richtigen Proportionen zu rücken.

Am 10. Dezember ist der Tag der Menschrechte oder Human Rights Day - ein guter Anlass für dringende Lesehilfen und andere Aktualisierungen des Denkmals.